Montag, 30. Mai 2016

Zu Besuch bei Tante Rosalinde Pudermond

Morgen ist es wieder soweit. Der alljährliche Besuch bei Tante Rosalinde steht bevor. Wie jedes Jahr habe ich von der allerbesten Konditorei eine Torte für sie bestellt. Und wie jedes Jahr wusste ich nicht, welche Geschmacksrichtung sie eigentlich bevorzugt. 
In diesem Jahr hab ich mich für Schwarzwälder-Kirsch-Torte entschieden. Schön cremig und keine Nüsse drin. 93 wird sie in diesen Tagen, und ist immer noch ziemlich fit. Sie lebt mit ihrem Mann im gemeinsamen Haus. Die beiden erledigen den Haushalt so gut es geht. Nur für gröbere Angelegenheiten wie Fenster putzen oder Böden wischen kommt eine Aushilfe. 

Ich freue mich, wenn ich sie sehe, jedoch schwindet diese Freude nach ungefähr einer halben Minute und macht einer gewissen Portion Angst Platz. 
Tante Rosalinde spricht nicht. 
Nein.
Sie singt. 
Und das aus vollster Inbrunst. Den ganzen Tag lang. Jedes Wort, jeden Satz, den sie sagen könnte, verwandelt sie in hochtönige Arien. 
Wie das mein Onkel aushält, weiß ich auch nicht. Wahrscheinlich trägt er zu Hause keinen Hörapparat. 
Damals, in den 1940er Jahren war sie als Statistin und Chorsängerin im Theater engagiert. Und seit damals singt sie. 

Die Familienbesuche dauern immer nur kurze Zeit, denn auch andere Verwandte halten die Geräuschkulisse der schrulligen, alten Dame nicht lange aus. Meist macht sie sich schick für ihr Fest und kleidet sich in bunte Hosen, schrille Oberteile und als besonderen Schmuck bindet sie sich oft eine Riesenmasche aus pinkfarbenen Tüll um den Hals. 
"Für die Showbühne!" wie sie meist sagt ....... äh....singt.

Einmal noch schlafen, dann gibt´s wieder Musik um die Ohren. Was sie da immer singt, weiß ich eigentlich auch nicht. Vielleicht sollte ich sie mal danach fragen. Ob sie mir dann noch mehr vorsingt?

Das Handy läutet. Es ist fast drei Uhr morgens. Tante Rosalinde ist tot. Einfach umgefallen, einfach aufgehört zu singen. 

Was sie gesungen hat, werden wir nie wissen. 




Schreib-Input des "Schreibraums" - HdF Linz
Idee: Sonja Kapaun

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